»Wir brauchen mentale Flexibilität«
Carolyn Moser leitet die unabhängige Max-Plank-Forschungsgruppe "Ensure European Security Revisited" und forscht am Max-Planck-Institut über den Bereich des Völker- und Europarechts. Wir sprachen mit ihr über die derzeitige sicherheitspolitische Lage in Europa – und welche Rolle KI dabei spielt.
human: Wie wirkt sich die aktuelle geopolitische Lage auf Ihre Arbeit in der Forschungsgruppe aus?
Carolyn Moser: Fast täglich ereignet sich etwas Neues, und es wird immer schwieriger, Schritt zu halten. Die entscheidende Frage ist: Was ändert sich derzeit nicht? Unser Ausgangspunkt ist, herauszufinden, was noch als konstant gelten kann – und was bereits im Wandel begriffen ist. Und ich würde sagen: so ziemlich alles.
Welche grundlegenden Annahmen wurden durch die aktuelle geopolitische Lage erschüttert?
In Europa baute man seit dem Zweiten Weltkrieg darauf, dass Frieden und Sicherheit letztlich von den USA garantiert werden. Doch Experten wissen schon länger, dass es diese Sicherheit so nicht mehr geben kann. Bereits unter Präsident Obama signalisierte man den Europäern, dass der Fokus der USA sich nach Asien verlagert („Pivot to Asia“). Diese bisherige Naivität – zu glauben, dass Sicherheit von außen garantiert wird – bricht nun weg. Das betrifft auch die europäische Verteidigung, die stark auf die NATO und den amerikanischen nuklearen Schutzschirm gebaut ist. Wenn dieser wegbricht, müssen die Europäer ihre Sicherheitspolitik neu aufstellen.
Was heißt das genau?
Wir sehen, dass Europa von großen Akteuren nicht mehr als eigenständiger internationaler Akteur wahrgenommen wird. Es gibt ein englisches Sprichwort: „Are you at the table or on the menu?“ Die Ukraine-Krise hat gezeigt, dass Europa eher auf der Speisekarte steht als am Verhandlungstisch sitzt. Das ist ein großer Schock.
Was sollen wir tun? Genügt militärische Hard-Power – oder braucht es jetzt eine Kombination aus verschiedenen Faktoren?
Absolut eine Kombination. Die wirksamsten Hard-Power-Akteure besitzen neben militärischen Fähigkeiten und wirtschaftlicher Stärke auch eine starke Soft Power, etwa kulturelle Attraktivität oder normativer Einfluss. Die USA ist das klassische Beispiel hierfür, aber auch Russland hatte diese „Strahlkraft“ in der UdSSR-Zeit, China besitzt sie heute in Afrika. Auch Europa verfügt über viele dieser Elemente, allerdings hat man diese bisher nicht konsequent genutzt. Zudem gibt es in der EU durchaus militärische Kapazitäten. Aber es fehlt an der Bereitschaft, im Ernstfall selbst Verantwortung zu übernehmen.
Fehlt der politische Wille zur Umsetzung?
Vielleicht fehlte er bisher, weil man dachte, es wird schon nicht so schlimm kommen. Jetzt gibt es ein Umdenken: Die EU hat angekündigt, 800 Milliarden Euro für europäische Aufrüstung bereitzustellen. Ein starker symbolischer Richtungswechsel. Aber die Frage bleibt, ob die Mitgliedstaaten das wirklich mittragen. Seit 20 Jahren ist klar, dass wir den europäischen Rüstungssektor harmonisieren müssen, statt 150 unterschiedliche Waffensysteme einzukaufen.
Wie und nach welchen Kriterien sollte man dieses gigantische Milliarden-Paket einsetzen?
Es kommt entscheidend darauf an, wie europäisch das Ganze ausgestaltet ist. Von den 800 Milliarden sollen 650 Milliarden über nationale Budgets ausgegeben werden. Aber Geld allein reicht nicht. Es muss dort investiert werden, wo das Geld auch wirklich gebraucht wird. Ein zentrales Problem ist zum Beispiel die militärische Mobilität: Es gibt massive logistische Hürden, selbst Panzer von Frankreich nach Polen zu transportieren. Es geht also nicht nur um die Beschaffung, sondern auch um die Frage, wie europäisch und effizient das geschieht.
Müsste man dafür auch die europäischen Institutionen anpassen?
Ja und nein. Wir haben bereits eine Europäische Verteidigungsagentur und gemeinsame Beschaffungsmechanismen. Es geht weniger um neue Institutionen als um ein Umdenken: Wir müssen aufhören, nur national zu agieren. Zudem muss die Rüstungspolitik auf moderne Kriegsführung ausgerichtet werden: Es braucht nicht nur Panzer und Haubitzen, sondern auch Drohnen, bessere Cyber-Kapazitäten und strategische Zukunftsplanung.
Wie kann man verhindern, dass nur die großen Rüstungskonzerne profitieren?
Große Konzerne wie Rheinmetall haben sicher Erfahrung und sind auch wettbewerbsfähig. Aber es gibt bereits Gegenbewegungen. Sicherheitsexperten fordern, nicht nur klassische Waffensysteme zu beschaffen. Man muss sich überlegen, wie man nationalen Egoismen, etablierten Vergabemustern und eingefahrenen Prozesse entgegentreten kann.
Welche Rolle kann Intelligenz, sowohl menschliche als auch künstliche, in heutigen Sicherheitskonzepten spielen?
Intelligenz ist im Leben generell notwendig, um Herausforderungen zu bewältigen. In der Sicherheitspolitik brauchen wir eine besondere mentale Flexibilität. Die Welt hat sich verändert, und das muss nicht nur negativ sein. Wir sollten pragmatisch handeln: Probleme erkennen und Lösungen entwickeln.
Wir müssen uns an die Umstände anpassen…
Genau. Wir sollten nicht in Lethargie verfallen oder über Vergangenes klagen, sondern uns aktiv mit den neuen Realitäten auseinandersetzen. Falls eine Lösung nicht tragfähig ist, brauchen wir eine andere. Diese Flexibilität wird in Europa dringend gebraucht.
Sollte dann aber nicht auch künstliche Intelligenz eine zentrale Rolle in der sicherheitspolitischen Strategie der EU spielen?
Der Strategische Kompass von 2022 erwähnt künstliche Intelligenz viermal, unter anderem im Kontext von Mobilität, Cyber-Sicherheit und als sicherheitspolitischen Vektor. Dabei geht es nicht nur darum, KI einzukaufen, sondern sie selbst zu entwickeln, um Souveränität zu bewahren.
Digitale und KI-Souveränität sollten also große Priorität auf der sicherheitspolitischen Agenda haben?
Ja. Besonders Frankreich treibt dieses Thema voran. Man identifizierte es auch auf EU-Ebene, beispielsweise in den jüngsten Beschlüssen der Staats- und Regierungschefs zur Aufrüstung, als einer der priorisierten Bereiche, in denen die europäische Verteidigung gestärkt werden soll. Allerdings sind die Europäer hier ins Hintertreffen geraten. Wir müssen aufpassen, nicht nur traditionelle Verteidigungsstrategien zu verfolgen. Wir dürfen neue technologische Fähigkeiten nicht vernachlässigen.
Gibt es eine wichtige menschliche Fähigkeit, die bisher in sicherheitspolitischen Debatten eher vernachlässigt wurde?
Ja: Einfühlungsvermögen. Sicherheitspolitik sieht in verschiedenen Teilen Europas sehr unterschiedlich aus. In Finnland, Frankreich oder Estland gibt es jeweils andere Bedürfnisse und Sicherheitswahrnehmungen. Europa muss sich als Schicksalsgemeinschaft verstehen und lernen, unterschiedliche Perspektiven und Bedarfe in eine gemeinsame Strategie zu integrieren. Vielleicht ist die Bedrohungslage inzwischen so ernst, dass die Europäer bereit sind, dieses Experiment einzugehen. |