„Wir brauchen grenzüberschreitende Lösungen“
Woran können wir uns halten, wenn nichts mehr planbar ist? Der Soziologe Thomas Druyen über mentale Flexibilität und die Fähigkeit, Unsicherheit als neue Normalität anzunehmen.
human: Was kann man aus der Zukunft lernen?
Alles. Unbestritten ist die evolutionäre und technologische Entwicklung der Menschheit und der Menschen, die unfassbar und unermesslich erscheint. Bis zu jenem Kulminationspunkt jetzt, der uns mit dem gigantischem Innovationspotential der Künstlichen Intelligenz an die Grenzen der Eigenständigkeit führt. Damit meine ich die Singularität und den Zugang zu technischen Gehirnen, die ganze Datenuniversen in Echtzeit orchestrieren. Dies allein macht die Zukunft zum Treiber aller Geschehnisse. Aber auch alte Themen wie der demografische Wandel oder die Klimaveränderungen werden seit sieben Jahrzehnen profund artikuliert, aber die meist objektiven Erkenntnisse werden von den Interessen-Piranhas zerrissen und jeweils in eigener Absicht instrumentalisiert. Wir kennen also die Zukunft, auch die KI schon seit 1956. Keine Beziehung scheitert, deren Soll-Bruchstellen sich nicht angekündigt haben. Aus der Vergangenheit lernen wir, was wir nicht tun sollten. Aus der Zukunft lernen wir, was wir tun sollen.
Hat eine Gesellschaft, die wie die unsrige ständig von Zukunft und Innovation redet, nicht eigentlich ein Problem mit diesen Themen?
Aus meiner Sicht ist das Gegenteil der Fall. Wir beziehen uns unentwegt auf die Vergangenheit. Ein Großteil aller kulturellen Ereignisse hat musealen Charakter und entspringt einer auf der Stelle spielenden Intellektualität. Natürlich holzschnittartig und aus der Hüfte formuliert: die grandiosen künstlerischen, politischen und gesellschaftlichen Problemberge werden unentwegt aufgeschüttet, aber nicht abgetragen. Wir brauchen in jeder Hinsicht grenzüberschreitende Lösungen und Umsetzungen. Wir sollten endlich zugeben, was wir und die Menschheit sind: ein Experiment wie das Leben selbst. Die Geschichte hat uns grandioser Weise an diesen Punkt geführt. Sie wird uns aber keineswegs auf die neue, notwendige Bewusstseinsebene transformieren.
Was heißt Zeitlichkeit für uns, wie ist unser subjektives Zeitempfinden, wenn sich alles rasend schnell verändert? Leben wir eher so, als wäre es noch ‚gestern‘
Ganz grob: Unser Gehirn erlebt Zeit auf zwei Ebenen: einer inneren, subjektiven Zeitempfindung und einer äußeren, messbaren Zeitwahrnehmung. Die innere Zeit ist psychologisch geprägt, variabel, und abhängig von Aufmerksamkeit, Emotionen und Erinnerungen. Intensive Ängste oder Stress können Minuten wie Stunden wirken lassen, während Selbstvergessenheit die Zeit verfliegen lässt.
Die äußere Zeit entspricht dem tatsächlichen Zeitverlauf, den unser Gehirn über äußere Reize und Rhythmen wahrnimmt, etwa Tageslicht, Uhrzeiten und gesellschaftliche Routinen. Unser Gehirn gleicht beide Ebenen ständig ab und versucht, sie in Einklang zu bringen. Doch in Zeiten radikaler Veränderung geraten diese Ebenen zunehmend auseinander: während die äußere Zeit durch technologische Beschleunigung immer schneller läuft, ist unser inneres Zeitempfinden an Erfahrungen und Gewohnheiten gebunden, damit träge und zunehmend oft überfordert.
Somit sind wir neuronal und psychologisch in einer Welt exponentieller Beschleunigung wie Prometheus an den Felsen des Bekannten gefesselt. Unser Gehirn hinkt den immer rascheren Zeitachsen der technologischen Wirklichkeit und insbesondere der KI hinterher, denn diese denken in exponentieller Dynamik, während unser subjektives Zeitempfinden linear und träge bleibt. Die KI könnte als Vermittler und Beschleuniger helfen, indem sie uns unterstützt, neue Denkweisen, Entscheidungsprozesse und Handlungsfähigkeiten zu entwickeln, um die chronische Verspätung unseres mentalen Systems gegenüber der Realität auszugleichen. Aber die Angst vor Kontrollverlust wirkt bei den Protagonisten der Welt weit mächtiger als die Aussicht auf bessere Zeiten.
Wir stehen am Beginn einer neuen Ära: geopolitisch, technologisch, ökologisch. Nichts ist mehr planbar. Woran können wir uns festhalten?
An allem, was für uns individuell und kulturbedingt greifbar, machbar und umsetzbar ist. Es geht darum, die innere und äußere Welt zu synchronisieren. Wenn ich keinen Schulabschluss habe, ist es schwer zu promovieren. Wenn ich promoviert habe, aber total introvertiert bin, ist es schwierig, ein rauscherzeugender Speaker zu werden. Wenn ich keine Menschen mag, sollte ich vom Arztberuf Abstand nehmen. Und so weiter. Millionen Beispiele zeigen, wo sich innen und außen in einem überschaubaren Radius befinden, ist in aller Welt Zufriedenheit möglich. Allerdings gibt es dafür keine Goldene Regel, dieser Idealismus ist gutgemeinte Phantasterei.
Zu oft und seriell wird aber unterschlagen, dass die Ungleichheit des Schicksals für eine ungeheure Zahl von Menschen keinerlei Planbarkeit erlaubt. Armut, Krieg und ein ganzes Kaleidoskop von Erniedrigungen führt dazu, dass der Zugang zur Zivilisation bereits ein auch wie immer geartetes Privileg ist. Wir stehen also am Beginn einer neuen Ära mit gigantischen Erwartungen und einem Heer von Millionen Menschen, deren Zukunft sich von der vor hundert oder dreihundert Jahren kaum unterscheidet. Woran sollen sie sich festhalten? Für sie klingt mein sinnvoller Rat zu Anfang wie Hohn, wie Spott wie eine Verächtlichmachung. Damit will ich sagen, jede Frage und jede Antwort hat immer nur eine begrenzte Zielgruppe. Wenn man das übersieht, wird man zur Beleidigungsmaschine.
Jetzt meine Antwort für ähnlich Lebende: Wir können uns an dem einzigen Halt orientieren, der uns in Zeiten grundlegender Unplanbarkeit bleibt: unserer Fähigkeit, mental flexibel zu bleiben und stetig zu lernen. Unsere Sicherheit kommt nicht mehr aus Planbarkeit, sondern aus Anpassungsfähigkeit, Intuition und der Bereitschaft, Unsicherheit und Komplexität als neue Normalität anzunehmen. Gerade weil Geopolitik, Technologie und Ökologie in exponentiellen Sprüngen verlaufen, braucht es ein Denken, das exponentiell flexibel und ebenso schnell lernt. Unsere Orientierung erwächst künftig weniger aus dem Festhalten an Vergangenem als aus unserem Mut zur Neugier, unserer mentalen Präsilienz und einer vernunftorientierten Selbstführung, die uns befähigt, aus dem Unbekannten kreativ Möglichkeiten zu schaffen. Die Künstliche Intelligenz wird uns hierbei nicht nur Werkzeug, sondern Denkpartner und Orientierungsassistent zugleich sein: Sie zeigt uns, wie wir Neues verarbeiten, Altes loslassen und Veränderung souverän gestalten können. So wird nicht mehr die Planbarkeit, sondern die Offenheit für Unplanbares zur stärksten Kraft, an der wir uns festhalten können.
Welche großen und kleinen Probleme können wir mit KI lösen, welche nicht?
In den nächsten Jahren mit Quantencomputing und genereller KI werden meiner Einschätzung nach objektive Problemlösungsuniversen möglich. Das kann ich aber hier nicht in Bruchstücken beschreiben. Daher fokussiere ich mich auf das, was noch nicht mit KI gelöst werden kann: Sinnfragen und moralische sowie religiöse Werteentscheidungen bleiben vorerst dem Menschen vorbehalten. KI simuliert Emotionen, doch echtes Mitgefühl, authentische Verbundenheit und tief empfundene Empathie bleiben ihr fremd. Kreativität erschöpft sich bei KI im Neukombinieren bekannter Muster, während der Mensch originär denkt und spontane und phantasiebedingte Inspiration erlebt. Ebenso wenig kann KI existenzielle Entscheidungen abnehmen: Fragen nach Identität, Lebenssinn oder persönlicher Berufung entziehen sich ihrer algorithmischen Zielsetzung. Zwischenmenschliches Vertrauen, Verantwortung und persönliche Integrität erwachsen aus echtem Bewusstsein, Selbstreflexion und der Erfahrung menschlicher Verletzlichkeit. KI kann diese Qualitäten unterstützen und simulieren, aber noch nicht selbst hervorbringen oder ersetzen.
Was würden Sie der neuen Regierung raten?
Schon seit über fünfzehn Jahren schlage ich vor, dass die Parteien Expertinnen und Experten für wichtige Funktionen nominieren und Entscheidungen treffen lassen. Parteizwänge und ideologische Eingrenzungen sind heutzutage das Ende der Objektivität. In dem Sinne gibt es keine Volksvertretungen mehr. Zu einer demokratischen Nation gehören eben alle Milieus. Dese gilt es optimal zu orchestrieren und zu repräsentieren. Da diese humanistische Aufgabe nicht wahrgenommen wird, ist es zu einer Interessenpolitik gekommen, die ausgrenzt und gegeneinander in Stellung bringt. So sieht auch unsere politische Wirklichkeit und die in den meisten Ländern aus: serielle Entzweiung. Welche Sehnsüchte nach Ordnung daraus erwachsen, können wir schmerzlich überall beobachten.
Da mein Rat und die meisten Ratschläge unabhängiger Geister die Politik ohnehin kaum interessiert, schlage ich eine Maßnahme vor, die machbar, sinnhaft und veränderungsfördernd wäre: ein echtes Zukunftsministerium.
Wofür leben Sie?
Um diesem Geschenk gerecht zu werden. |